Textingold

aus: FAZ,14. Juni 2025, Nr. 136, Bilder und Zeiten, Seite Z4


Russland in Kürze
Aphoristische Selbstdarstellung und Selbstkritik einer Nation

Von Felix Philipp Ingold

Neben „Leben“ und „Liebe“ ist „Russland“ der am häufigsten genutzte Suchbegriff auf aphoristischen Plattformen im russischen Internet – noch vor „Mensch“, „Frau“, „Macht“, „Gott“. Auch „Glück“, „Geschlecht“ (sex), „Arbeit“, „Zeit“, „Alter“, „Tod“ folgen, weit abgeschlagen, erst danach. Das russische Publikumsinteresse am Thema „Russland“ allgemein, speziell aber an dessen Verdichtung und Präzisierung im Aphorismus mag vom Bedürfnis bestimmt sein, das offizielle, patriotisch überhöhte Geschichtsbild der Russländischen Föderation zu hinterfragen, es zu differenzieren, vielleicht auch zu korrigieren. Im Hinblick auf den aphoristischen Gesamtbestand ist allerdings festzuhalten, dass die alther gebrachten russischen Merksprüche, Slogans, Deklarationen sowie Auszüge aus literarischen und publizistischen Texten zum Verständnis des Landes und seiner Leute nur wenig Positives beizutragen haben. Denn die einheimische Aphoristik kontrastiert durchweg in fast jeder Hinsicht mit der offiziell seit eh und je gepflegten nationalistischen Heroisierung, zu der sie in erbarmungsloser Selbsterniedrigung und Selbstverspottung die inoffizielle Kehrseite bildet. 

Mag sein, dass gerade im Aphorismus die viel diskutierte Polarität des russischen Charakters, die einst der Geschichts- und Religionsphilosoph Nikolaj Berdjajew polemisch aufgezeigt und wortreich beklagt hat, ihre schärfste Ausprägung findet. „das russische Volk ist ein hochgradig polarisiertes Volk, das heißt – ein Ensemble von Gegensätzen“, hält Berdjajew (in seiner „Philosophie der Ungleichheit“, 1918) fest: „Man kann sich darob begeistern, und man kann daran verzweifeln, stets muss man mit Unerwartetem rechnen, es ist in hohem Maß dazu angetan, heftige liebe und heftigen Hass auf sich zu ziehen.“ Dass davon auch das russische Selbstverständnis zutiefst geprägt ist, bestätigt in gebotener Kürze, dabei jedoch auf vielfältigste Weise die russische Aphoristik.

Die Vielfalt bleibt jedoch weitgehend auf negative Eigenarten und Verhaltensweisen beschränkt. Positives wie die sprichwörtliche russische Geduld, Genügsamkeit, Leidens- und Glaubensfähigkeit ist aphoristisch schwerlich einzuholen und bietet keine valablen Anknüpfungspunkte für Sprach- oder Gedankenspiele, im Gegenteil – viel eher werden dadurch vaterländische Klischeevorstellungen wachgerufen. das hat damit zu tun, dass hier der Verstand (das heißt das Verstehen und allgemein die Rationalität) zugunsten von Gefühligkeit, Illusionen, Wunschdenken und unkritischem Patriotismus außer Kraft bleibt. 

Anders die Negativpunkte – sie sind Gegenstand der Kontroverse und der Kritik, sei es als Erfahrungstatsachen oder als für Russland typische Defizite, Schwächen, Gebrechen, und sie werden denn auch aphoristisch als ebenso desolate wie attraktive Vorgaben reichlich genutzt. Das Ungenügen am russischen „Wesen“ (Mentalität, Charakter, seele) sowie an der russischen Lebenswelt und Lebensart wird unter wechselnden Perspektiven – bald durch Verallgemeinerung, bald durch Präzisierung – auf den Punkt gebracht. Es gibt ein altes ambivalentes „Sprichwort“, das Russland zunächst fast zärtlich als eine mythische Mutter imaginiert, die ihre Kinder umhegt, von ihnen jedoch dafür nicht wertgeschätzt, sondern ausgenützt und missbraucht wird: „Wir sind die Kinderchen von Mütterchen Russland, Russland ist unsere Mutter – also saugen wir’s aus.“ 
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Die einzigartige Besonderheit der russischen Aphoristik besteht im Gegenzug zur offiziellen Staatspropaganda darin, dass – und in welch großem Umfang – sie die Kritik und die Selbstkritik am eigenen Land zur Geltung bringt. Dass vorab die territoriale, über elf Zeitzonen sich erstreckende Ausdehnung Russlands reichlich Anlass zu solcher Kritik gegeben hat, mag erstaunen, erklärt sich aber plausibel dadurch, dass die räumliche Weite mit der Weite des „russischen Charakters“ und der nationalen Mentalität in Beziehung gesetzt wird. „Überhaupt sind die russischen Menschen weitläufige Menschen“, so lautet ein sprichwörtlich gewordener Merksatz Fjodor dostojewskis: „weitläufig wie ihre Erde“. 

Doch Weitläufigkeit bedeutet nicht in jedem Fall die souveräne Verfügung über das heimatliche Rerritorium, sie wird auch, viel öfter noch, mit Orientierungslosigkeit, Rastlosigkeit, Ziellosigkeit und Verlorenheit in Verbindung gebracht. „Oftmals kommt es mir tatsächlich so  vor, als wäre der Russe ein verlorener Mensch“, bestätigt Nikolaj Gogol, Verfasser des Romanpoems „Die toten Seelen“: „ohne Willenskraft, ohne den Mut zur Beständigkeit. Alles will man tun – nichts vermag man.“ der Schriftsteller Nikolaj Leskow sekundiert ernüchtert: „Bei uns, die wir keinerlei Maß und Zurückhaltung kennen, halten sich die Leute weder an Gut noch an Böse.“ Und Boris Tschitscherin, ein führender 
Rechtsgelehrter im späten Zarenreich, hält dazu ergänzend und erklärend fest: „die vorrangige Eigenart des russischen Geistes besteht im Fehlen jeglichen Verständnisses für Grenzen.“

Russlands räumliche Weite – größtenteils schwach strukturiertes Flachland – wird vorrangig als eine gewaltige Leere empfunden, die dem Menschen seine Nichtigkeit vor Augen führt, und nicht als ein vielfältiger, produktiv zu nutzender Freiraum. Der exilrussische Aphoristiker Grigorij Landau hat darauf aufmerksam gemacht, dass „vermutlich allein in der russischen Sprache das Wort ‚Freiheit‘ (wolja) sowohl den Willen zur Grenzüberschreitung als auch das Fehlen jeglicher Grenzen bezeichnet“. Freiheit der Wahl, des Schaffens, der selbstverwirklichung wird hier eher gefürchtet als gefordert, und das Bedürfnis nach politischer wie nach geistiger oder geistlicher Führung ist gemeinhin so stark ausgeprägt, dass es einer mehrheitlichen Unterwerfungsbereitschaft gleichkommt.

Die russische „Sklavenmoral“ ist denn auch zu einem Topos sowohl der externen Russlandkritik wie des russischen Selbstverständnisses geworden. Mit dem Aplomb des Klassikers, der  er ist, fordert Anton Tschechow: „tropfenweise muss man [in Russland] den Sklaven aus sich herauspressen.“ Dostojewski wiederum veredelt die unterwürfigen russischen Einzelmenschen, indem er sie zu einem kollektiven Volkshelden und völkischen Herrscher transformiert. Es gebe in Russland „zwar Knechtschaft, aber keine Knechte“, konstatiert er beschönigend: „Herr der russischen Erde ist allein der Russe (der Großrusse, der Kleinrusse [Ukrainer], der Weißrusse – das ist alles eins), und so wird es ewiglich sein.“ damit liefert er das panslawische Konzept, mit dem der heutige Putinismus seine imperialen Ansprüche gegenüber der Ukraine und Belarus geltend macht.
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„Man mag Achtung haben vor jenen, die an Russland glauben, nicht jedoch vor dem Gegenstand ihres Glaubens.“ ein Diktum von Wassilij Kljutschewskij, dem letzten großen Historiker des Zarenreichs, offiziell hochdekoriert und gleichzeitig weithin populär – eine Lichtgestalt der russischen Intelligenz im Vorfeld der Revolution. Dass er außerdem ein geistreicher und wortmächtiger Aphoristiker war, stellte sich erst lange nach seinem Tod heraus, als aus  seinem Nachlass eine umfängliche sammlung seiner Sprüche veröffentlicht wurde. der „vaterländische“ Geschichtsschreiber erweist sich darin unerwartet als ein entschiedener Kritiker russischer „Verhältnisse“ und des russischen „Wesens“ insgesamt – die fortdauernde Aktualität seiner aphoristischen Zuspitzungen ist offenkundig, aktuell auch sein generelles Statement: „Geschichte ist ohne Lehre, sie ist bloß Strafe für die Unkenntnis ihrer Lektionen.“

Und zu Russland: „Unsere Geschichte verläuft nach unserm Kalender: Mit jedem Jahrhundert bleiben wir um einen Tag hinter der Welt zurück.“ – „in Russland gibt es keine mittleren Talente, keine Kleinmeister, es gibt bloß einsame Genies und Millionen untauglicher leute. Die Genies können nichts erreichen, weil sie keine Gehilfen haben, und mit den Millionen ist nichts anzufangen, weil es unter ihnen keine Meister gibt. Erstere taugen nichts, weil ihrer zuwenige sind; letztere sind hilflos, weil sie zu zahlreich sind.“ – „Am klarsten kommt der russische Verstand in seinen Dummheiten zum Ausdruck.“ schon Tschechow hatte notiert: „Grobes Unwissen – die Mutter aller russischen
Übel.“ Und nochmals Rosanow: „Bei Tschechow gibt es ebenso oft ‚ich will‘ wie ‚ich will nicht‘. Genauso ist es mit Russland, wo ‚ich möchte nicht‘ ebenso geläufig ist wie ‚ich möchte gern‘ . . . Alles unentschieden, alles unklar . . .“ 

Dass Übertreibungen und Verallgemeinerungen zur aphoristischen Rhetorik gehören, sollte angesichts solch dezidierter Aussagen nicht vergessen werden. doch zumeist treffen deren Pointen einen wahren und bedenkenswerten Sachverhalt. Auch ist russische Selbstkritik so, wie sie in Spruchform vorgetragen wird, nicht einfach als Bestätigung westlicher Russlandkritik zu verstehen, eher ist sie Ausdruck kritischer Selbstbefragung im Gegenzug zur propagandistischen staatlichen Selbstdarstellung, die im putinistischen Imperium ebenso konsequent praktiziert wird wie einst im Zaren- und Sowjetreich. „Russland macht den Eindruck, eine Großmacht zu sein. Etwas anderes macht es freilich nicht.“ Dieser provokante Spruch des  zeitgenössischen russischen Aphoristikers Akram Murtasajew evoziert die Scheinwelt der offiziellen Kremlpropaganda und damit auch die Folie, von der sich die dissidente Selbstkritik mancher Autoren entschieden abhebt.
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Ein paar wenige Beispieltexte aus der jüngeren Vergangenheit und aus der gegenwärtigen russischen Aphoristik mögen die Ausrichtung und Reichweite dieser Kritik dokumentieren: „die Zeit vergeht in Russland nicht. sie steht wie ein Pflock. Über Jahrhunderte hin.“ (Wiktor Pelewin) – „Wir haben vieles geschafft; was wir nicht geschafft haben, war stets zu unsern Gunsten.“ (Michail Genin) – „Getreu seiner Geschichte leidend / Unter Bestialität, sklaven- und Herrentum, / ist Russland ein wundersames land / Mit einem ganz und gar verfickten staat.“ (Igor Guberman) – „Der Frühling ist in Russland ein Ungemach, / Gibt sich überreizt und launenhaft./ Und ist erst mal der Schnee verschwunden, sieht man wieder, / Wie sehr das Vaterland verschissen ist.“ (abermals Guberman) – „Als wären die Russen ständig bekümmert – ständig zieht es sie irgendwohin in die Ferne, in fremde Länder, aber sie schaffen den Aufbruch nicht. ‚Langeweile‘, ‚Sehnsucht‘, ‚womit sich beschäftigen?‘ – das ist ihr stetiges Motiv im Leben wie in der Literatur.“ (Tatjana Tolstaja) – „Einst irrten wir uns darin, wir seien auf dem richtigen Weg, heute darin, wir seien auf einem besonderen Weg.“ (Boris Krutijer) – „Die Geschichte Russlands – ein Kampf der Unbedarftheit mit der Ungerechtigkeit.“ (Michail Shwanezkij) – „Russland – das Land der Talente. Talente gibt es massenhaft, nur gibt es für sie nichts zu tun.“ (abermals Shwanezkij) – „‚Was wird aus Russland?‘ – da schweigt einer, schaut aufmerksam hin. Ich warte mit Zittern und Beben. – ‚Nichts wird daraus.‘“ (Wladimir sorokin) Und so fort.

Die Besonderheit dieser denunziatorischen Selbstbezichtigungen besteht darin, dass sie das Russentum insgesamt im Visier haben und nicht bloß – wie sonst in der Aphoristik üblich – irgendwelche politischen oder gesellschaftlichen Missstände. Vergleichbar fundamentale Kritik am eigenen Land, an der eigenen Kultur, an der nationalen Eigenart ist in solchem Umfang und in solcher Vehemenz nirgendwo sonst namhaft zu machen. Ein italiener, ein Portugiese, ein Franzose, ein Pole, gar ein deutscher, der seiner Heimat alle zivilisatorischen Qualitäten abspricht und sie als historische Leerstelle desavouiert, ist schwerlich vorstellbar. 

Zu überlegen wäre, ob und inwieweit diese „Leere“ zur Entstehung der „Potemkinschen Dörfer“ beigetragen hat, jener sagenhaften Fassaden also, die Russland einst hochzog und die es weiterhin propagandistisch hochhält, um eigene notorische Defizite pompös zu kaschieren? Die seit einem Jahrhundert vom Kreml angesagte „lichte Zukunft“ des russländischen Imperiums lässt jedenfalls weiterhin auf sich warten. Dazu noch einmal Fjodor Dostojewski: „die künftige eigenständige russische Idee ist bei uns noch nicht geboren, doch die Erde ist schrecklich trächtig von ihr und schickt sich in furchtbaren Qualen an, sie zur Welt zu bringen.“