Textingold

Beitrag in "Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen im Aphorismus", Tagungsband zum 10. Aphoristikertreffen in Hattingen, hrsg. von Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert, edition virgines, 2024, ISBN: 978-3-910246-12-6


Kafkas unvollendete Aphoristik. Eine kritische Revision
Von Felix Philipp Ingold

Rund ein Dutzend Textausgaben von Franz Kafkas „Aphorismen“ sind gegenwärtig im Buchhandel greifbar, einige davon unter dem präzisie renden Titel „Zürauer Aphorismen“, aber auch solche, die – als Nachdrucke – dem Wortlaut des Erstdrucks von 1931 folgen: „Betrachtun gen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“, so formuliert von Max Brod, der die einschlägigen Notate in das von ihm postum herausgegebene Sammelwerk „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ aufnahm und sie mit seiner willkürlichen Titelgebung thematisch auf den Punkt zu bringen suchte. Sehr viel später, 1953, legte Brod die „Betrachtungen“ im Rahmen der „Gesammelten Werke“ Kafkas erneut vor, diesmal ergänzt durch zwei gleichzeitig entstandene Oktavhefte (G und H), die einen aufschlussreichen Kontext, partiell auch eine vom Autor intendierte Ergänzung dazu bilden. Inzwischen sind mehrere historisch-kritische Editionen dieses Textkonvoluts greifbar, neuerdings – ausführlich kommentiert von Reiner Stach und betitelt mit einem Kafka-Zitat („Du bist die Aufgabe“, 2019) – ein Band, der wiederum mit dem Gattungsbegriff „Aphorismen“ firmiert.  #1 

Stach zählt Kafkas „Aphorismen“ gleich schon im ersten Satz seines Nachworts zu den „originellsten geistigen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts“ und hält in der Folge konsequent an diesem pauschalen Su- perlativ fest. Zwar bringen auch ihn manche dieser Kürzesttexte in „definitorische Verlegenheit“, weil sie von der üblichen Begriffs- und Funk- tionsbestimmung der Aphoristik abweichen; dennoch ordnet er sie gesamthaft dem aphoristischen Genre zu und konstatiert pauschal: „Die Aphorismen sind demzufolge Literatur …“ Doch mit deren gattungskonformer Einordnung tut er sich schwer. Im Nachwort zu seiner Buchausgabe etikettiert er sie abwechselnd als „Reflexionsprosa“ (in Form von „Überlegungen“ oder verknappten „Parabeln“), aber auch als „surreale Denkbilder“ oder einfach als „bildhafte Ausdrücke“, mit denen Kafka Gelesenes, Gedachtes, Geahntes und Imaginiertes literarisch zu sammenführe. Gerade die „literarischen Mittel“ und generell die Literarität dieser „Reflexionsprosa“ finden bei Stach jedoch keinerlei Be achtung, auch nicht die Frage, ob und inwiefern der Autor in diesem Fall überhaupt literarische, mithin künstlerische Ambitionen hegte.

Andererseits kommentiert Stach mit bemerkenswerter Sachkenntnis und Akribie jeden einzelnen Text aus dem Zürauer Konvolut, zeigt Quellen und Parallelstellen auf, verzichtet aber auf interpretative Höhenflüge, begnügt sich stattdessen mit diskreten, dabei durchaus hilfreichen Hinweisen auf mögliche Lesarten. Die Fülle dieser Hinweise bestätigt die Kommentarbedürftigkeit von Kafkas Notaten und damit auch deren aphoristische Untauglichkeit – kommentarbedürftige Aphorismen sind verfehlte Aphorismen. Doch Stach lässt jeglichen kritischen Zugriff vermissen. Die in den Zürauer „Aphorismen“ rekurrenten Form- und Denkfehler nimmt er nicht wahr oder blendet sie aus, all seine Kommentare sind auf Apologie angelegt, Qualitätsunterschiede bleiben außer Acht. Ob fahrige Notizen hier, ob form- und ausdrucksstarke Prägungen dort – der gesamte Textbestand scheint dem Herausgeber als sakrosankt zu gelten. Jedenfalls hält er Kafkas angebliche Aphoristik für einen durchwegs gelungenen Versuch, „begriffliches und bildliches Denken mit literarischen Mitteln und in eindringlichen Denkbildern zu synthetisieren“.

Doch nur auf eine kleine Minderheit der Zürauer Texte trifft diese Charakterisierung zu – ihre literarische Qualität wie auch ihre gedankliche Eindringlichkeit schwankt von Fall zu Fall beträchtlich, und das sollte nicht kritiklos übergangen werden. Der künstlerische Rang des Autors wird im Hinblick auf sein Gesamtwerk in keiner Weise herabgemindert, wenn man seine vermeintlichen „Aphorismen“ nicht als „originellste“ Meisterstücke gelten lässt.

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Im Gegenzug zur weitreichenden Einmütigkeit, mit der in der Forschungsliteratur wie in der Publizistik und in breiten Leserkreisen die Zürauer Notate als „Aphorismen“ bezeichnet werden, stelle ich diese pauschale Qualifizierung dezidiert in Frage. Abgesehen davon, dass Kafka selbst (als Autor) und Brod (als Herausgeber) die Aufzeichnungen aus der Zürauer Zeit nie der Aphoristik zugeordnet haben, können sie bei genauerem Hinsehen und neutraler Beurteilung größtenteils aus formalen wie aus inhaltlichen Gründen nicht als aphoristisch gelten.

Denn viele – die meisten – einschlägigen Formalien und Funktionen aphoristischer Rede kommen in Kafkas Zürauer Texten nicht zum Tragen, auch nicht der ursprüngliche, durch den griechischen Begriff des αφορισμός vorgegebene definitorische und implizit didaktische Anspruch. Die für den Aphorismus charakteristische rhetorische Zuspitzung bei gleichzeitiger Verallgemeinerung der Aussage spielt bei Kafka kaum eine Rolle. Auch wenn er sich mehrheitlich um die gebotene Kürze bemüht, vermeidet er die übliche geschliffene („frisierte“) Sprachform der Aphoristik und verzichtet fast durchwegs auf jene intellektuelle Prägnanz, die von aphoristischer Rede gemeinhin in Form von Pointen beziehungsweise von Aha!-Effekten erwartet wird. Gedankenakrobatik und Wortspiele gehören ebenso wenig zu seinen Anliegen wie die Behauptung von allgemeinen „Wahrheiten“ und die Ausfällung von „Urteilen“.

Kafkas Interesse als der Aufklärung oder Wegweisung, wie der klassische Aphorismus sie bereithält – Erfahrenes, Erlittenes, physisch und psychisch Bedrängendes, Skepsis, Ängste und Zweifel sind bei ihm jeder intellektuellen Einsicht vorgeordnet. Die Ambition hergebrachter Aphoristik, Erkenntnisse, d. h. Erkanntes rhetorisch auf den Punkt zu bringen (z. B. in Sentenzen, Maximen, Epigrammen), spielt für Kafka kaum eine Rolle – umso mehr Stoff und Gewinn scheint er für seine Aufzeichnungen aus Meditation, Phantasie und Traum zu ziehen. Tiefsinn hat Vorrang vor Scharfsinn, Wahrhaftigkeit vor Richtigkeit.

Die übliche formale und argumentative Perfektion aphoristischer Rhetorik, wie sie beim Einsatz von Thesen und Antithesen, Parallelismen und Umkehrungen, Ironie und tieferer Bedeutung sich zu erkennen gibt, ist für Kafka offenkundig nicht von Interesse, im Gegenteil – Unklarheiten, Widersprüche und selbst logische Fehler lässt er bedenkenlos zu, in der Überzeugung, dass das „Wesentliche“ weder klar noch logisch sein kann, also auch nicht klar und logisch auszuformulieren ist.

Die entschiedene, von Fall zu Fall auch entscheidende Trennung von Entweder / Oder (z. B. wahr/falsch, wirklich/möglich, gerecht/ungerecht, schuldlos/schuldhaft, geistige Welt/sinnliche Welt usf.) kommt bei Kafka nie als Problemlösung in Betracht, er hält vielmehr an der Komplexität und Simultaneität des Sowohl-als-auch fest, ebenso an der Schlichtheit und Unergiebigkeit des Weder-noch, selbst dann, wenn dadurch die Logik oder die Kausalität dementiert wird und allein der Widersinn (in Form des Paradoxons oder des puren Nonsense) als illusorischer Ausweg offenbleibt. Die mythischen Doppelwesen des Kentauren oder der Nixe veranschaulichen diese unhaltbare Denk- und Existenzform auf einfachste, dabei höchst prägnante Weise – sie sind sowohl Mensch wie auch Tier und dennoch weder Tier noch Mensch. Diese unübersteigbare Ambivalenz trifft in diesem Fall ebenso auf die gattungsmäßigen Doppelungen Mann/Stier und Frau/Fisch zu. Kafka selbst liefert dazu – ein einziges Beispiel sei hier genannt – das einprägsame Bild des Doppelmonsters Gregor Samsa (in „Die Verwandlung“), der beim Erwachen feststellt, dass er als Mensch zugleich ein Ungeziefer ist und nunmehr in einer unteilbaren Existenzform gefangen bleibt.

Folge davon ist die durchgehende Relativierung aller Werte und Verhältnisse, auch aller logischen, psychologischen und sozialen Beziehungen. „Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völliger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben“, notiert Kafka („Aphorismen“, 72), „so dass wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen Menschen rückgeschlossen werden muss.“ Wenn letztlich ohnehin alles gleich und der „Mensch“ nicht „ich“, sondern viele „verschiedene Subjekte“ ist – welches Wort, welche Tat sollte dann Gültigkeit haben, sollte richtig und verbindlich sein? Aus diesem Relativismus erwächst als ständiger kafkaesker Topos die unhaltbare Situation, aus der es kein Entrinnen gibt, in der aber auch nicht verharrt werden kann.

Zu Hunderten sind unhaltbare Situationen bei Kafka – oft durch Kafka selbst – dokumentiert, in seiner Lebenswirklichkeit wie in seinem Werk. Eine reiche Quelle dafür bieten seine Briefe und Tagebücher. Aus ihnen wird ersichtlich, wie qualvoll für Kafka die Unhaltbarkeit all seiner „Situationen“ gewesen ist – seine Situation als Angestellter, als Schriftsteller, als Jude, als Sohn, als Liebhaber, als Bräutigam, als Patient. Entscheidungen zu treffen, Erwartungen aufoder abzubauen, das war ihm unter dieser Voraussetzung versagt und gab ihm auch tatsächlich das Gefühl, ein Versager zu sein und sich damit schuldig gemacht zu haben. Auch nur einen Termin (etwa ein Rendezvous) zu fixieren, wurde für ihn zu einem existenziellen Problem: kann ich / kann ich nicht; will ich / will ich nicht; kommst du / kommst du nicht; zürnst du / zürnst du nicht; liebst du / liebst du nicht; will ich und kann ich heiraten / will ich und kann ich es nicht; muss ich, kann ich schreiben oder muss ich’s, kann ich’s nicht? Usf.

Wenn Kafka gegenüber Milena Jesenská auf eine autoritative „Stimme“ verweist, die sich „zwischen uns“ drängt und „gleichzeitig“ zwischen uns „vermittelt“, oder wenn er ihr im Hinblick auf den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu bedenken gibt, dass „das Mit-ihm-spielen zwar nicht erlaubt, aber auch nicht verboten“ gewesen sei, so sind dies lediglich zwei von beliebig vielen Beispielen, mit denen er die Unhaltbarkeit (die Absurdität) des Sowohl-als-auch und dessen Umkehrung, des Weder-noch, eindrücklich aufzeigt.

Ein Gleiches ist dem unschuldig/schuldigen Protagonisten im Roman „Der Process“ beschieden, der sein Urteil/seine Verurteilung ebenso fürchtet wie erhofft, oder dem Mann, der (in der Erzählung „Vor dem Gesetz“) ins „Gesetz“ eintreten will, es aber nicht kann, weil er sich, statt es zu tun, einem unentschiedenen Warten hingibt, um zuletzt zu erfahren, dass eben dieses vergebliche Warten der Sinn und zugleich der Widersinn seines Lebens gewesen ist.

Die hauptsächliche Funktion des Aphorismus, nämlich eine bestimmte, vorab intendierte Aussage jäh als „Wahrheit“ einsichtig zu machen, wird in solch unhaltbaren Situationen hinfällig und läuft bei Kafka gewissermaßen leer. Denn jeder rationalen Erkenntnis und jeder Selbstgewissheit zog er (gemäß einem frühen undatierten Schreiben an Milena Jesenská) „das Geheimnisvolle, vom Verstand nicht zu Durchdringende“ explizit vor. Und so tritt er denn – im Gegensatz zum ausgewiesenen Aphoristiker – mit seinen Kurztexten nie als Wissender oder gar als Besserwisser auf, sondern gibt sich selbstquälerisch in seiner Ratlosigkeit, Unentschiedenheit, Fehlerhaftigkeit zu erkennen („ich der Ängstliche, Zögernde, Verdächtigende“, wie er in seinem „Brief an den Vater“ präzisiert), womit er seine eigene Autorität untergräbt und sich als „Aphoristiker“ vollends disqualifiziert. Nur ausnahmsweise ist Kafka geistreich, und er bemüht sich auch gar nicht um intellektuelle Brillanz – seine Grunddisposition ist die Nachdenklichkeit, mit starker Neigung zur Grübelei, zum Zweifel und zur Resignation.

Die Tatsache allerdings, dass Kafka seine Zürauer Notate größtenteils auf separaten, eigens nummerierten Zetteln notiert hat, bestätigt zumindest deren „aphoristischen“ Anspruch, eine eigenständige Textsorte und damit in jedem Einzelfall ein abgeschlossenes Werk zu sein, d. h. kontextfrei bestehen zu können, nicht anders als ein Gleichnis, ein Rätsel, ein Witz, ein Gedicht. In eben diesem Verständnis hat Georg Christoph Lichtenberg seine Aphorismen als „Zettulchen“ bezeichnet und Johann Wolfgang von Goethe seine Sinnsprüche als festgeschriebene „Einzelnheiten“.

Unzutreffend ist demgegenüber die wiederkehrende Bezeichnung von Kafkas Notaten als „Fragmente“, etwa bei Roberto Calasso, der sie 2004 und 2006 in einer vielbeachteten eigenen Edition herausgebracht und bedenkenlos mit „Meteoritensplittern“ verglichen hat, „die in Wüstengegenden niedergegangen“ seien. – Übrigens hat schon Theodor W. Adorno (in seinem Geleitwort zu Heinz Krügers „Studien über den Aphorismus als philosophische Form“, 1956) das „aphoristische Denken“ pauschal als „fragmentarisch“ definiert, als ein „Denken in Brüchen“, obwohl doch der Aphorismus, ganz im Gegenteil, stets als ein ungebrochenes Ganzes zur Geltung gebracht wird, auch dann, wenn er explizit auf „Brüche“ verweist. Nicht als fragmentarisch, eher als embryonal wären Kafkas Zürauer Texte zu bezeichnen – in ihnen ist die aphoristische Ausformung bestenfalls als Potential angelegt, ohne zur Entfaltung oder gar zur Vollendung gebracht zu werden.

Hätte Kafka selbst seine Zürauer Notate als Aphorismen bezeichnet, so hätte das mit ihm und nach ihm sicherlich auch Max Brod getan, der über solche Details genau Bescheid wusste. Doch stattdessen präsentierte er die nachgelassenen Texte in seiner Druckfassung als „Betrachtungen“ und fügte „Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ als thematische Schwerpunkte hinzu. Damit wird klargestellt, dass es hier – in der passiven Form von Anschauung oder Meditation – vorwiegend um Probleme der Moral sowie um den Weg und den Sinn des Lebens geht. Allerdings greift Kafka weit darüber hinaus, sowohl formal wie thematisch. Keineswegs begnügt er sich mit der Problembetrachtung, und auch Problemlösungen bietet er nicht an, eher schon entwirft er Probleme, experimentiert mit ihnen, fast immer mit dem Ergebnis, dass sie letztlich nicht zu bewältigen sind.

Die von mir bevorzugte unprätentiöse Charakterisierung der Zürauer Texte als Aufzeichnungen ist insofern gerechtfertigt und adäquat, als hier – das Faksimile der Handschrift belegt es – mit spontan sich entfaltender Schreibbewegung in knapper Formulierung festgehalten wird, was den Autor bewegt, was ihn verzweifeln und hoffen lässt, was er erwartet, befürchtet, sich wünscht oder erträumt, und wie er all dies auf den Menschen – das Menschsein – generell überträgt, gleichermaßen angeregt durch Alltagserfahrungen (Krankheit, Landleben, Ausflüge, Gespräche) und intensive Lektüren (Genesis, Cervantes, Kierkegaard).

Entstanden sind die Aufzeichnungen während eines äußerlich unbeschwerten Urlaubs auf dem Gutshof seiner Schwester Ottla vom September 1917 bis April 1918 in Zürau (Böhmen). Kafka hatte damals das definitive Scheitern seiner Beziehung zu Felice Bauer gerade eben hinter sich und war neu mit der Diagnose seiner Tbc-Erkrankung konfrontiert. In der ländlichen Provinz hoffte er, Pflege, Erholung, Heilung zu finden. Die Krankheit, die er als „Verstärkung des allgemeinen Todeskeims“ wahrnahm, bereitete ihm damals noch keine gravierenden Probleme, an frischer Luft, bei gesunder Ernährung und einnehmender Lektüre hoffte er, zur Ruhe zu kommen. „Das Dorfleben ist schön und bleibt es“, berichtete er Ende Oktober an Felix Weltsch. Mit seiner Schwester Ottla lebte er „in kleiner guter Ehe“, fühlte sich, wie er gegenüber Max Brod (September 1917) präzisierte, „auf ihren Flügeln durch die schwierige Welt“ getragen, gestand aber an anderer Stelle, dass er sich auf sein „Endziel hin prüfe“. Konkrete literarische Projekte hatte Kafka in dieser glücklichen Auszeit nicht – der Roman „Der Process“ und die Textfolge „Ein Landarzt“ waren in Arbeit, die Erzählung „In der Strafkolonie“ hatte er abgeschlossen, „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ lagen im Druck vor.

Kafka scheint sich damals vorrangig auf sein Tagebuch, seine umfangreiche Korrespondenz sowie die Aufzeichnungen konzentriert zu haben, die er ab Mitte Oktober 1917 in verhältnismäßig rascher Folge (ohne seine gefürchteten Schreibkrisen) in ein Oktavheft eintrug.

Der Akt des Aufzeichnens hat bei Kafka dennoch keine primär dokumentarische oder kommentierende Funktion, vielmehr ist es ein Akt, der stets auch Erinnerungen, Befürchtungen, Vergleiche wachruft, und oft werden solche „Einfälle“ in eigenständige, bisweilen phantastische Denkbilder transformiert. Bei dieser Transformation tritt das auktoriale wie als grammatische Subjekt als „erste Person“ in den Hintergrund zu Gunsten der Verallgemeinerung der jeweiligen Aussage – „ich“ wird vorzugsweise ersetzt durch „man“, „wir“, „der Mensch“ („er“, auch „du“). Solcherart werden persönliche Befindlichkeiten aus der individuellen in eine generelle Sphäre übertragen, ein Verfahren, das Kafka in diesen Aufzeichnungen fast durchgehend praktiziert und das bekanntlich auch in der gängigen Aphoristik zur Anwendung kommt.

Hier ein paar Beispieltexte dazu:
„Wie kann man sich über die Welt freuen, ausser wenn man zu ihr flüchtet?“ (Zettel 25) – „Wenn man einmal das Böse bei sich aufgenommen hat, verlangt es nicht mehr, dass man ihm glaube.“ (28) – „Lass Dich vom Bösen nicht glauben machen, Du könntest vor ihm Geheimnisse haben.“ (19) – „Die Hintergedanken, mit denen Du das Böse in Dir aufnimmst, sind nicht die Deinen, sondern die des Bösen.“ (29) – „Seine [wessen? des Menschen allgemein? des Autors im Besondern?] Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen.“ (37) – „Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären.“ (56) – „Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat.“ (58) – „Er [der Mensch] frisst den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf.“ (73) – „Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt uns zu dienen …“ (84). Usf. –

Ersetzt man in diesen und ähnlichen Sätzen die unbestimmten (unbestimmbaren) Subjekte durch „ich“, könnten sie als authentische Selbstaussagen des Autors gelesen und verstanden werden, würden dann aber jeglichen aphoristischen Anschein einbüßen.
Zwar mögen Kafkas Aufzeichnungen aus Zürau mehrheitlich einen aphoristischen Anschein haben, doch als „Aphorismen“ sind sie ihrer Form zu ungeschliffen und in ihrer Aussage zu unentschieden, manchmal auch zu komplex und zu sehr verrätselt, um (im Sinn gängiger Aphoristik) erhellend oder wenigstens frappierend zu sein. Statt wie zünftige Aphoristiker auf möglichst geistreiche Formulierungen abzuheben, gibt sich Kafka vorrangig in seiner Nachdenklichkeit und Skepsis zu erkennen.

Ausgenommen davon sind einzig die Zettel 5, 26 (2), 27, 78 – hier gelingt das aphoristische Vorhaben, rhetorische Figuren zu pointierten „Wahrheiten“ zu verdichten: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg“, heißt es etwa in 26 (2): „Was wir Weg nennen, ist Zögern.“ Doch mehrheitlich begnügt sich Kafka mit der Ausformulierung von oftmals allzu umständlichen, auch missverständlichen Behauptungen, Glaubenssätzen, Frage- und Problemstellungen, wie sie auch in seinen Briefen oder Tagebüchern vorzufinden sind.

Dazu kommt, dass die Aufzeichnungen in manchen Fällen zu umfangreich geraten, um als Aphorismen in Frage zu kommen. Exemplarisch dafür ist der Zettel 13, der mit einem genuin aphoristischen Satz aufgetan wird: „Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben.“ Gefolgt ist diese dezidierte Aussage dann aber von weiteren, teils erläuternden, teils erzählenden Zusätzen; doch eben diese machen den starken aphoristischen Auftakt zunichte und lassen den Text zu einem Mikroessay oder zu einer Anekdote mutieren, wie man sie bei Kafka auch anderweitig vorfindet.

Dass es sich bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Zürauer Notate also nicht um eigentliche, sondern eher um scheinbare Aphorismen handelt, ist bei genauem Hinsehen leicht aufzuzeigen. Selbst bei seinen bekanntesten und meistzitierten Zetteln drängen sich entsprechende Vorbehalte auf. – Hier einige Beispiele dafür:

„Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.“ – Das ist ein besonders eindrückliches Diktum (22) aus Kafkas Notaten, lakonisch und sprachmächtig zugleich. Doch eine aphoristische Zuspitzung bleibt hier ebenso aus wie die gedankliche Kohärenz. Da wird eine Aufgabe als „Du“ angesprochen und damit auch personalisiert, obwohl doch eine Person keine Aufgabe sein, sondern nur eine solche haben kann. Gleichzeitig wird festgehalten, dass für diese Person beziehungsweise diese Aufgabe keine Schüler zur Verfügung stehen. Woraus sich die Frage ergibt, wie denn ein Schüler eine Aufgabe erledigen sollte, die ihm als Person gegenübertritt? Unklar bleibt auch, von welcher Instanz die definitorische Anrede – „Du“ – ausgeht; konkret: Wer bestimmt wen dazu, eine „Aufgabe“ zu sein, und konstatiert gleichzeitig (weshalb?), dass es für sie „weit und breit“ keinen Schüler gibt? Solche Un- entschiedenheiten und Unklarheiten lässt die aphoristische Rede nicht zu. – Und weiter:

„Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Auch hier (16) liegt eine Personifizierung, zumindest eine Animation vor: Ein Käfig (gemeinhin ein Tierzwinger) macht sich auf die Suche nach einem Vogel, den er wohl als seinen Gefangenen festhalten oder als Gast beherbergen möchte. Dieses Dispositiv könnte durchaus einen Aphorismus erbringen, doch Kafka lässt es bei einer schlichten (wenn auch durchaus überraschenden, vielleicht befremdlichen) Feststellung bewenden, die ohne jede Pointe oder Lehre auskommen muss.

Weithin bekannt ist auch der Zettel (1), mit dem Kafka seine Aufzeichnungen eröffnet: „Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“ – Auch hier handelt es sich um einen potenziellen Aphorismus, den Kafka nicht realisiert, nur probiert hat. Der „wahre Weg“ dürfte hier als der richtige, rechtschaffene, gerechte Lebensweg gemeint sein, der jedermann offensteht, den abzuschreiten aber eine persönliche Entscheidung und eine persönliche Anstrengung erfordert. Wenn von diesem idealen Weg gesagt wird, er gehe „über ein Seil“, das in Bodennähe ausgespannt sei, ist dies eine Relativierung der Gefährlichkeit, die anschließend ohnehin irrelevant wird, weil der Weg (das Seil) gar nicht erst begangen werden muss, sondern vorab zum Stolpern „bestimmt“ zu sein scheint. Auch in diesem Fall inszeniert Kafka ein einprägsames Bild, ohne es aphoristisch zu nutzen, ein Bild übrigens, das insofern nicht ganz stimmig ist, als der Unterschied zwischen dem Begehen des Wegs längs des Seils und dem Stolpern darüber quer dazu unbeachtet bleibt.

Die hier knapp kommentierten Beispieltexte lassen erkennen, wodurch und inwieweit Kafkas „Aphorismen“ von der gewohnten beziehungsweise der geforderten aphoristischen Schreibweise abweichen oder ihr sogar zuwiderlaufen. In zahlreichen andern Fällen ist dies noch deutlicher zu erkennen, etwa dort, wo sich Kafkas vorgebliche Aphorismen lediglich als beiläufige, bisweilen banale Notizen herausstellen:

„Zum letztenmal Psychologie!“ (93) – „Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht.“ (87) – „Was ist fröhlicher als der Glaube an einen Hausgott.“ (68) – „Er läuft den Tatsachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen, der überdies irgendwo übt, wo es verboten ist.“ (67) – „Im Kampf zwischen Dir und der Welt sekundiere der Welt.“ (52) – „A. ist ein Virtuose und der Himmel ist sein Zeuge.“ (49) – „Lächerlich hast Du Dich aufgeschirrt für diese Welt.“ (44). Usf. –

Nichts an diesen Notaten hat irgendeine aphoristische Relevanz.

Mehrheitlich legt Kafka durchaus bedenkenswerte, oft tiefsinnige, manchmal hermetische, gelegentlich auch komische Kurztexte vor, ohne auf deren aphoristische Machart, Funktion oder Wirkung zu achten. Der Verzicht auf jegliche Brillanz und selbst auf sprachliche (grammatische, stilistische) Korrektheit ist charakteristisch dafür.

Man lese beispielshalber:

„Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es sein. Das erste ist Vollendung also Untätigkeit, das zweite Beginn, also Tat.“ (90) – Hier widerspricht Kafka ungewollt sich selbst, indem er „das erste“ und „das zweite“ offenkundig verwechselt. Denn „unendlich klein“ zu sein, kann gerade nicht als „Beginn“ oder als „Tat“ gewertet werden, ist vielmehr „Vollendung also Untätigkeit“, während umgekehrt der, welcher sich „unendlich klein“ macht, eine Tat vollbringt, die einen Beginn markieren kann.

„Wahrheit ist unteilbar, kann sich also nicht erkennen; wer sie erkennen will, muss Lüge sein.“ (80) – Dass Wahrheit unteilbar sei, mag als Behauptung dastehen; dass Wahrheit aber auch erkennendes beziehungsweise sich selbst erkennendes Subjekt sein kann, ist undenkbar. Wer sie als Objekt erkennen wollte, müsste im Übrigen nicht „Lüge“, sondern ein Lügner sein.

Und noch etwas zur Wahrheit: „Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts.“ – Was unter „Kunst“, zumal „unserer Kunst“ zu verstehen ist (Können? Künstlertum?), bleibt unklar; ebenso unklar, dass und wie „Kunst“ (wohl eher: der Künstler) von der Wahrheit geblendet sein kann – oder ist hier die Wirklichkeit gemeint? Und was hat es mit dem „Fratzengesicht“ auf sich, auf dem sich, während es zurückweicht, die Wahrheit als „Licht“ verbreitet? Ist es also die fratzenhafte Wahrheit des Lichts, die uns (Künstler?) blendet, mithin blind macht?

In einem später (1920) hinzugefügten Notat (54a) kommt Kafka noch einmal auf die machtvolle Zerstörungsbeziehungsweise Auflösungskraft des Lichts zurück: „Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt.“ – Vermutlich ist auch an dieser Stelle das Licht der Wahrheit gemeint, offen bleibt jedoch, wer („man“) die Welt weshalb auflösen wollte und ob die Auflösung durch das Licht oder durch die Wahrheit oder durch das Licht der Wahrheit bewirkt wird. Unvermittelt ist danach von schwachen und stets schwächer werdenden Augen die Rede, vor denen die Welt sich verfestige (dabei aber „Fäuste“ bekomme), bevor sie ihrerseits schwach und „schamhaft“ wird, um schließlich – unerwartet und unmotiviert – den „zerschmettert“, der sie (die Welt, die Wirklichkeit) „anzuschauen wagt“.

Kafka bringt gegensätzliche Begriffe und Bilder willkürlich durcheinander: Auflösung und Festigkeit, Augen und Fäuste, Schwäche, Scham und Gewalt wechseln sich ab, treffen aufeinander, durchwirken einander, provozieren ein apokalyptisch anmutendes Chaos, dessen Anblick jeden Betrachter vernichtet. Nicht nur die Unübersichtlichkeit, auch die Unerkennbarkeit der Welt wird in dieser rätselhaften Aufzeichnung einprägsam vergegenwärtigt.

All dies und manch anderes aus Kafkas Aufzeichnungen hat demnach mit Aphoristik nichts zu schaffen, und man stellt sich die Frage, weshalb er so viele untaugliche, sei’s zu dunkle, sei’s zu simple Texte denn überhaupt in seine Auslese aufgenommen hat. Zu vermuten ist, dass er die Zürauer Notate nicht als ein Werk (etwa im Hinblick auf eine allfällige Veröffentlichung) konzipiert hat, vielmehr als eine private, gänzlich unsystematische Sammlung von losen Schriftzetteln, die seine damalige Verfassung – persönlich, religiös, intellektuell – zumindest punktuell vergegenwärtigen, womöglich auch bewahren sollte.

Obwohl die Zettel eigens nummeriert sind und somit ein geschlossenes Ensemble bilden, unterscheiden sie sich nach Form und Aussage nicht merklich von gewissen Annotationen, die Kafka gleichzeitig in seine Tagebücher und Briefe wie auch in seine Erzähltexte einfließen ließ. Greift man solche Bemerkungen als Zitate aus dem jeweiligen Kontext heraus, kann man überrascht sein, wie ähnlich sie den eigenständigen Notaten sind: Manche davon könnten sich durchaus auch als separate Gedanken oder Sprüche behaupten, einige sogar als Aphorismen. Insgesamt würden sich solche Textauszüge in gleicher Weise wie die Zürauer Zettel zu einem Ensemble vereinigen lassen, und mehr als das – sie könnten problemlos mit jenen Aufzeichnungen zusammengeführt werden, ohne sich von ihnen merklich zu unterscheiden.

Was oben zu Kafkas angeblichen Aphorismen, ihrer Eigenart und ihren Schwächen ausgeführt wurde, gilt genau so für die Extrakte aus literarischen und privaten Zusammenhängen. Die nachfolgende Auslese von Zitaten aus disparaten Kontexten (Erzählungen, Kurzprosa, Tagebücher, Briefe) mag dies – als erste Versuchsanordnung solcher Art – konkret (und ohne zusätzliche Erläuterungen) vor Augen führen. Der Vergleich mit den Aufzeichnungen aus Zürau wird erkennen lassen, dass der Autor da wie dort prägnante Gedanken, Wahrheiten und Bilder im Sinn hatte, nicht jedoch die Absicht, sie konsequent aphoristisch auszuarbeiten und auf ein bestimmtes Verständnis, eine bestimmte Erkenntnis zuzuspitzen.

„Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.“ – Das ist einer der bekanntesten und eindrücklichsten Kernsätze aus Kafkas Korrespondenz mit Milena Jesenská (undatiert), ein Satz, der sich tatsächlich wie ein Aphorismus ausnimmt, als solcher jedoch nicht funktionieren kann, weil er sich als persönliche Aussage (Bekenntnis, Geständnis) zu erkennen gibt. Die individuelle Adressierung (Du – ich) macht den aphoristischen Anschein obsolet. Andererseits wäre ein funktionierender Aphorismus leicht herzustellen durch Verallgemeinerung beziehungsweise Neutralisierung der Aussage („man“ statt „Du“ und „ich“): ‚Liebe ist das Messer, mit dem man in mir wühlt.‘ Oder einfacher noch: ‚Liebe ist das Messer, das in einem wühlt.‘ – Ebenso ließe sich mit einem Satz aus den „Forschungen eines Hundes“ (1922) verfahren: „… der Überfluss ist es, der mich in dunklen Stunden verzweifeln lässt“, sagt dort der Ich-Erzähler; er könnte es aber auch in aphoristischem Stil als allgemein gültige Aussage formulieren: ‚Der Überfluss ist es, der einen in dunklen Stunden verzweifeln lässt.‘ Usf.

Nachfolgend und abschließend führe ich (als erste Auslese dieser Art) eine kleine Anthologie von Zitaten aus diversen Schriften Kafkas kommentarlos an, um darzutun, dass sie sich von den Zürauer Zetteln formal nicht unterscheiden, und um zu verdeutlichen, dass es sich weder hier noch dort um eigentliche Aphorismen handelt, jedenfalls aber um bemerkenswerte Aussagen zu unterschiedlichsten Erfahrungen, Einsichten und Befindlichkeiten in ebenso unterschiedlicher Tonalität – bald mahnend, fordernd, klagend, bald unterhaltsam, spekulativ, sogar komisch. Ob die Texte separat für sich stehen oder ob sie einem wie immer gearteten Kontext entstammen, ändert nichts an ihrer Struktur, Qualität, Funktion oder Aussage. Das Aphoristische (These/Antithese, Zuspitzung, Effekt, Lehre, Gültigkeit) ist in all diesen Extrakten potentiell vorgegeben, wird aber nicht realisiert. Die Embryonalität von Kafkas Denkfiguren tritt hier deutlich zutage; sie im Einzelnen zu beobachten und zu analysieren, bleibt ein Desiderat. Man lese weiter:

„Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“ („Ein Landarzt“)

„Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben …“ („Die Sorge des Hausvaters“)

„Man wurde gewissermassen schon bestraft, ehe man noch wusste, dass man etwas Schlechtes getan hatte.“ („Brief an den Vater“)

„Verstand geht dem Blödesten auf.“ („In der Strafkolonie“)

„Die Schuld ist immer zweifellos.“ (a. a. O.)

„Die besten Freunde aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt.“ („Zum Nachdenken für Herrenreiter“)

„Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.“ (a. a. O.)

„Man sehe die Überzeugungskraft der Luft nach dem Gewitter!“ („Der Nachhauseweg)

„Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand.“ („Ausflug ins Gebirge“)

„Aus einem elenden Zustand sich zu erheben, muss selbst mit gewollter Energie leicht sein.“ („Entschlüsse“)

„Wenn man seine Stimme unter andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen.“ („Kinder auf der Landstrasse“)

„Ach, man lernt, wenn man muss; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos.“ („Bericht für eine Akademie“)

„Aber das Kartenhaus ist doch nicht eingestürzt, weil der Tisch gerückt wurde, sondern weil es ein Kartenhaus war.“ (Brief an Max Brod, 6. 9. 1923)

„Die Krankheit selbst, als Kampftruppe angesehn, ist das gehorsamste Geschöpf der Welt, ihre Augen sind nur auf das Hauptquartier gerichtet …“ (Brief an Minze E., Herbst 1922)

„… man vergeudet nicht, man wird vergeudet.“ (an Minze E., März 1921)

„Warum nicht vor jedem Dornbusch die gleiche Angst haben wie vor dem brennenden?“ (Brief an Max, Januar 1921)

„… schade, dass man nicht stark genug ist, der Deutlichkeit immer und ständig ein deutliches Gesicht zu zeigen.“ (an Max Brod, Januar 1918)

„Man muss bezaubern, wenn man etwas Wesentliches bekommen will.“ (Brief an Oskar Baum, September 1917)

„Es waren wunderbare Zeiten, warum muss es gute Literatur gewesen sein?“ (Brief an Max Brod, Juli 1916)

„Es sitzen hier eben in den Vorstellungen die Unmöglichkeiten eben so nah beisammen wie in der Wirklichkeit.“ (Brief an Max Brod, 28. 9. 1913)

„Die verbreitetste Individualität der Schriftsteller besteht ja darin, dass jeder auf ganz besondere Weise sein Schlechtes verdeckt.“ (Brief an Ernst Rowohlt, 14. 8. 1912)

„Das Leichte ist schwer, es ist so leicht und so schwer.“ (Oktavheft H, 1918)

„… dass neues Leben aus den Ruinen blüht beweist weniger die Ausdauer des Lebens als des Todes.“ (a. a. O.)

„Aber erfahrungsgemäß finden sich für jeden Posten bereitwillige und geeignete Leute.“ („Der Kübelreiter“)

„Und solche Angst vor dem Tode? Warum? Was ist an dem Leben?“ (Reisetagebücher, 1913)

„Man muss das Sehn immer wieder von vorn anfangen.“ (a. a. O.)

„Wozu mir das alles merken? Ich komm ja nie mehr her.“ (a. a. O.)

„ … vom nichtverstehenden Ernstsein zum Lachen ist es weiter als vom eingeweihten Ernstsein …“ (a. a. O., 1911)

„Schweizerisch. Mit Blei ausgegossenes Deutsch.“ (a. a. O.)

„Man ist doch ein Ausbund von Dummheit.“ (Brief an Milena Jesenská, undatiert)

„Niemand singt so rein als die, welche in der tiefsten Hölle sind …“ (a. a. O.)

„Wenn einer gestern gemordet hat – und wann könnte aus diesem Gestern jemals auch nur ein Vorgestern werden – , kann er heute keine Mordgeschichten ertragen.“ (a. a. O.)

„Wenn man Verlassenheit in Verlassenheit legt, entsteht daraus niemals eine Heimat, sondern eine Katorga.“ (a .a. O.)

„Die eine Verlassenheit spiegelt sich in der andern, selbst in der tiefsten dunkelsten Nacht.“ (a. a. O.)

„Still sein ist das einzige Mittel zu leben, hier und dort.“ (a. a. O.)

„Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden …“ (Selbstzitat aus einem Brief an Milena Jesenská, a. a. O.)

„Das Entweder-Oder ist zu gross.“ (a. a. O.)

„Schon das Erkennen verbraucht so viel Kraft, wie viel würde erst das Nichterkennen verbrauchen?“ (a. a. O.)

„Ewig wollte man fragen, Nicht-Schlafen heißt ja fragen; hätte man die Antwort, schliefe man.“ (a. a. O.)

„Nicht etwa aus Mitleid kannst Du nicht leiden machen, sondern deshalb, weil Du es nicht kannst.“ (a. a. O.)

„Und dann, wie soll sich die Seele anders als durch ein wenig Bosheit von einer Last befreien?“ (a.a.O.)

„… wäre ich allein, könnte mich nichts vom Durchdenken abhalten – man macht sich schon in der Gegenwart zum Kampfplatz der Zukunft …“ (a.a.O.)

„Man ist unausgeschlafen viel gescheiter als ausgeschlafen …“ (a.a.O.)

„Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.“ (a. a. O.)

„Der von seinen Teufeln gequälte Mensch quält sich eben besinnungslos an seinem Nächsten.“ (a. a. O.)

Aus Kafkas „Gesprächszetteln“ (ab Mai 1924):

„Jedes Glied müde wie ein Mensch.“

„Mit wenig verschluckt man sich vielleicht leichter.“

„Das Schlechte soll schlecht bleiben, sonst wird’s noch schlechter.“

„… ein wenig sättigt man sich auch an dem Verlangen.“

„Wie wunderbar das ist, nicht? der Flieder – sterbend trinkt er, sauft er noch.“ Usf.


1 Nach dieser Edition wird im Folgenden aus den Zürauer Texten zitiert; für Kafkas literarische Werke, die Werkentwürfe und Tagebücher wurden die «Gesammelten Werke in zwölf Bänden» (1994), herausgegeben von Hans-Gerd Koch, als Arbeitsgrundlage verwendet.