Textingold

 aus: FAZ, 12. APRiL 2025, Nr.  87, Bilder und Zeiten, Seite Z4


Doppeltes Monster
Der Kentaur als russisches Kulturmodell

Von Felix Philipp Ingold

 

Kentaur, ca. 530 BCE, Princeton University Art Museum.
Kentaur, ca. 530 BCE, Princeton University Art Museum.

Vor gut einem Jahrhundert hat der russische Philosoph und Publizist Nikolaj Berdjajew in diversen Schriften den „Ostwesten“ als die eigentliche und einzig angemessene Himmelsrichtung seines Landes herausgestellt. Damit sollte der althergebrachte zivilisatorische Konflikt zwischen Ost und West beziehungsweise zwischen Russland und Europa nicht befriedet oder gar aufgehoben werden, vielmehr ging es Berdjajew darum, zwei gegensätzliche weltanschauliche Positionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen – das Problem setzte er dabei mit der Lösung gleich: Der russische „Ostwesten“ trägt den Konflikt schon immer in sich, er selbst ist der Konflikt, und er bleibt das Problem.

 

Russlands Auseinandersetzung mit Europa war stets auch eine interne Auseinandersetzung mit dem eigenen europäischen Erbe, das über Jahrhunderte hin zielstrebig vereinnahmt wurde in permanentem Gegenzug zur Schwerkraft der religiös imprägnierten „russischen Seele“. Dabei stand Europa exemplarisch für Fortschritt, für Erneuerung, wenn nicht gar für Revolution, derweil die eigenen Quellen und Werte, verfestigt in der orthodoxen Glaubenswelt, als die einzig  verlässlichen Garanten für den Fortbestand der „organischen“ großrussischen Staatlichkeit galten. Wenn sich der Kreml heute in übereinstimmung mit dem Moskauer Patriarchat als Bastion ebenjener christlich fundierten Quellen und  Werte in Stellung bringt, um seinen Kampf gegen den „satanischen Westen“ zu rechtfertigen, ist das der konkrete Bbleg für die ungebrochene  Aktualität eines weit zurückreichenden ideologischen Schismas.

Berdjajew hat dieses Schisma als eine tiefgreifende innere Spaltung diagnostiziert, die  gerade nicht auf ein Entweder-oder zurückzuführen sei (entweder Russland oder Europa), vielmehr darauf, dass es dem Prinzip des Sowohl-alsauch folge (Russland mit Europa). Dem  traditionellen russischen Selbstverständnis sei die Spaltung inhärent, Gegensätze schlössen  einander nicht aus, sondern koexistierten unversöhnt nebeneinander: Synthese als verkappte Polarität.

Charakteristisch für das Russentum insgesamt ist nach Berdjajew das gleichzeitige Streben nach Einheit und Vielheit, nach Harmonie und Dissens, nach Autorität und schrankenloser Freiheit, aber auch die häufige, fast gar normale Verbindung von Unterwürfigkeit und Aufruhr, Sentimentalität und Grausamkeit, Gottesglaube und Nihilismus, Endzeit- und Heilserwartung: „einzig in Russland verkehrt sich jede These in ihre Antithese, die bürokratische Staatlichkeit erwächst aus dem Anarchismus, die Sklaverei aus der Freiheit, der extreme Nationalismus aus supranationaler Gesinnung.“ 

Diese fundamentale Zerrissenheit glaubt Berdjajew als Russlands schicksalhafte „innere Krankheit“ zu erkennen, welche nie eine „kulturelle Mitte“ (wie das Bürgertum in Europa) habe aufkommen lassen, und er bekräftigt diese Anamnese durch seine fundamentale, vielfach wiederholte Russlandkritik, die von ihrer Schärfe und Aktualität kaum etwas verloren hat: „Russland ist das nationalistischste Land der Welt, ein Land von nie gesehenen exzessen des Nationalismus, ein Land, das minderheitliche Völkerschaften durch Russifizierung unterjocht, ein Land nationaler Überheblichkeit, ein Land, in dem alles – bis hin zur universalen christlichen Kirche – nationalisiert ist, ein Land, das auf seiner exklusiven Berufung besteht und das die zum Untergang verurteilte europäische Welt als faulige Ausdünstung des Teufels verwirft.“

Der internationale Antagonismus zwischen Russland und Europa fand seine nationale Entsprechung in der Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzung zwischen dem alten Machtzentrum Moskau und der neuen nördlichen  Metropole Petersburg, die von 1700 an zum Shauplatz und Inbegriff der Europäisierung wurde, gleichzeitig aber auch als antirussisches „Teufelswerk“ in Acht und Bann geriet. Der Reformzar selbst, Peter der Große, wurde als „deutscher Usurpator“ und Verkörperung alles Fremden und Bösen dämonisiert. Zuvor schon, im sechzehnten Jahrhundert, hatte Iwan der Schreckliche, Inbegriff des russisch-orientalischen Selbstherrschertums, seine „germanischen“ Sympathien offen bekundet.

Darüber sollte man nicht vergessen, dass der russische „Ostwesten“ nebst Europa auch Zentralasien sowie den Fernen Osten in sich schließt: Das Zarenreich, die Sowjetunion, die Russländische Föderation bilden ungeachtet mancher  territorialen Modifikationen das weltweit größte Staatsgebiet. Angesichts dieses geradezu monströsen interkontinentalen Imperiums hat Alexander Bestuschew schon 1832 in seinem Roman „Die Fregatte ‚Hoffnung‘“ den russischen Charakter problematisiert: „tatsächlich ist kaum zu ergründen, wer wir sind – weder Fisch noch Fleisch, weder Europa noch Asien. in ferner Vergangenheit waren wir unbeleckt von allem, noch in der Gegenwart sind wir unerwachsen, und auch in der Zukunft bleiben wir ohne Zuversicht – schlicht eine Spottgeburt aus Dreck und  Feuer . . .“ 

Diese herbe Selbstkritik hat in der Folge der adelige Privatdenker Pjotr Tschaadajew produktiv fortentwickelt, indem er sie durch eigene Vorstellungen und Vorschläge zur Güte ergänzte. in einem 1836 französisch verfassten „Philosophischen Brief“ beschrieb er das Zarenreich als eine historische und zivilisatorische Leerstelle und verglich es mit einem unfruchtbaren Sumpfgelände, das „weder zum Osten noch zum Westen“ gehöre, das aber vielleicht dazu tauge, „zwischen den beiden Hauptteilen der Welt“ eine Brücke zu bilden und, „mit dem einen Arm auf China, mit dem anderen auf Deutschland gestützt“, die großen Errungenschaften Asiens und Europas in sich selbst zu synthetisieren und damit im russischen Kulturraum „die Geschichte des ganzen Erdballs zusammenzufassen“. 

Die ambivalente Lage Russlands zwischen Europa und Asien gab – nicht anders als die enorme emotionale Bandbreite seiner Mentalität – Anlass zu zahlreichen Metaphernbildungen, die allesamt auf die Bipolarität des einheimischen Weltbilds verweisen. Russland als unergründliche Sphinx oder als janusköpfiger Gigant, als „eurasisches“ oder „asiopäisches“ Weltreich – das sind einige der Bilder und Vorstellungen, die man in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten aufgeboten hat, um den eigenartigen nationalen Status Russlands zu veranschaulichen. Die Vergleiche beziehen sich mehrheitlich auf die Scharnierfunktion des Landes zwischen Europa und Asien, und oft sind sie verbunden mit dem Vorwurf, diese verbindende Funktion werde nicht oder zu wenig konsequent oder zu einseitig wahr genommen – bald wende sich Russland kritiklos dem Westen zu (stichwort: Imitationskultur), bald öffne es sich östlichen Einflüssen (stichwort: orientalischer Despotismus), und allzu oft sei es bloß mit sich selbst beschäftigt und kapriziere sich auf einen „Sonderweg“ zwischen den Kontinenten.

Von dieser Ambivalenz war auch noch der Bolschewismus gekennzeichnet, der sich als revolutionäre Spielart des Westlertums gerierte und dessen Dogmatik ausschließlich auf europäischen Textvorlagen beruhte, der dann aber in der politischen und militärischen Praxis nach dem Vorbild asiatischer Gewaltherrschaft durchgesetzt wurde. Die geradezu systematische Widersprüchlichkeit zwischen Propaganda (oder Prophetie) und desolater Wirklichkeit war ein Charakteristikum des Sowjetsystems wie schon der einstigen Autokratie, und sie ist es heute, in der putinistischen Russländischen Föderation, noch immer.

Dazwischen kam es – nach der Wende von 1989/1991 – im Klima der neuen Offenheit (Glasnost) zu einem neuartigen Versuch, die innere (ethnische, sprachliche, kulturelle) Diversität des russischen „Ostwestens“ als nationalen Reichtum auszuweisen, statt auf dessen angeblicher Gespaltenheit und Unvereinbarkeit zu beharren. Der Anstoß und die Grundidee dazu kamen von dem Publizisten Daniil Danin, der sich zuvor als Verfasser populärwissenschaftlicher Monographien und namentlich mit einem Buch zur Frage „Wie viel Kunst braucht die Wissenschaft?“ einen respektablen Namen gemacht hatte. Die Antinomie von Kunst und Wissenschaft, die zu jener Zeit als „Kampf zweier Kulturen“ international diskutiert wurde, veranlasste Danin dazu, ein eigenes fachübergreifendes Forschungsprojekt auf den Weg zu bringen, das sich der „Zusammenführung des nicht Zusammengehörigen in der Natur, der Geschichte und der Wissenschaft“ widmen sollte. Die daraus entwickelte Lehre propagierte und differenzierte er ab 1992 bis zu seinem Tod (2000) unter der Bezeichnung „Kentauristik“ als Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Russländischen Humanistischen Staatsuniversität sowie in zahlreichen Vorträgen und Publikationen.

Im Alleingang etablierte Danin die Kentauristik als akademische Disziplin. Die „Zusammenführung des nicht Zusammengehörigen“ wurde in der postsowjetischen Frühzeit, da sich nach langer Repression und Stagnation plötzlich vielerlei neue Perspektiven, naturgemäß aber auch viele neue Widersprüche auftaten, zu einem vorrangigen Desiderat. Kentauristisches Denken fand denn auch merkliche Beachtung, es bot sich an zur Bewältigung der damaligen weltanschaulichen Unübersichtlichkeit wie auch zur Klärung der hergebrachten Kontroversen um den Status Russlands zwischen West und Ost.

Schon immer hatten diese Kontroversen zum zentralen Themen- und Problembereich der Geistesgeschichte Russlands gehört. Vorzugsweise wurden sie unter Stichworten wie „Antagonismus“ oder „Binarismus“ abgehandelt, also in ständigem Hinblick auf die „Zwiespältigkeit“ des russischen Selbstverständnisses und die Unvereinbarkeit mancher seiner Grundpositionen: Extremismen aller Art bekämpfen und versöhnen sich unentwegt, ohne jemals einen gemeinsamen Nenner zu finden oder auch bloß einen Kompromiss anzustreben; bildlich gesprochen koexistieren „Himmel“ und „Hölle“ in gespanntem Verhältnis, ein „Fegefeuer“ als neutrales Zwischenreich gibt es nicht. 

Diese fatale Polarität findet im Kentauren eine passende symbolische Verkörperung. In ihm – halb Mensch, halb Pferd – konkretisiert sich die paradoxale Figur des ausgeschlossenen Dritten. 
Das Doppelmonster ist mehr als die Addition zweier gegensätzlicher Hälften zu einem hybriden Ganzen, es steht zugleich für eine Ganzheit, in der das logisch Unvereinbare vereint ist und die bestehende Gegensätze nicht ausschließt, sie vielmehr nutzt, um aus ihnen immer wieder  etwas neues, ganz Anderes, nie Dagewesenes entstehen zu lassen. 

In einem späten Radiointerview erläuterte Daniil Danin die Kentauristik und deren mythisches Wappentier wie folgt: „Der Kentaur ist eine Metapher für Konsens, eine Metapher für Kompromiss und Konvergenz, hauptsächlich aber eine Metapher für Komplementarität (. . .). im Kentauren spielt sich kein Kampf ab zwischen zwei Hypostasien, dies im Unterschied zur dialektischen Einheit, wo es diesen Kampf gibt und wo der Sieg eines der beiden Beteiligten sogar obligatorisch ist. Wo es zu einem Sieg kommt, ist der Kentaur erledigt. Alles bricht zusammen, denn faktisch steht der Kentaur jeder Dialektik entgegen. Er bekräftigt die friedliche Zusammenführung des Nichtzusammengehörigen.“

Die Kentauristik ging wohl zu optimistisch davon aus, dass dieser konsensuelle Prozess durch den rational funktionierenden Mechanismus menschlichen Verhaltens vorgegeben und garantiert sei. Als „pädagogisches Experiment“ war sie jedenfalls von kurzer Dauer, eine Schule ist daraus nicht geworden, von offizieller Seite gab es grundsätzliche Vorbehalte – in der Optik des russischen Bildungsministeriums galt die Kentauristik als eine allzu freiheitliche, deshalb „unmögliche Disziplin“, und nach wenigen Jahren  produktiver Aktivität wurde die weltweit erste und einzige kentauristische Professur wieder abgeschafft.

Heute, ein Vierteljahrhundert danach, hat der Kentaur im restaurativen russländischen Selbstverständnis keinen Platz mehr: Das von ihm symbolisierte „Prinzip der Toleranz“ hat sich in sein Gegenteil verkehrt, ist unter Wladimir Putins Präsidentschaft abgelöst worden durch eine konsequent antagonistische, bewusst provozierende und polarisierende Diplomatie, die sich politisch wie rhetorisch aus dem propagandistischen Fundus der UdssR speist und auch Relikte aus der slawophilen Polemik des neunzehnten Jahrhunderts mit sich führt.

Vergessen ist demgegenüber Nikolaj Berdjajews hoffnungsvolle Mahnung, wonach Russland – statt mit imperialer Geste über sich hinauszugreifen – seine eigene disparate Vielfalt versöhnlich kultivieren und gleichzeitig sein Verhältnis zu Europa klären sollte: „Russland muss für Europa eine innere, nicht eine äußere Kraft sein – eine Kraft produktiver Transformation. Dazu muss sich Russland kulturell europäisieren (. . .).“ Das könnten auch die Worte eines Kentauristen sein.